Geschichte – selbst erleben und deren Verlauf beeinflussen

Geschichte – das sind normalerweise die wirklich großen und weltbewegenden Ereignisse – Kriege, Revolutionen, soziale und gesellschaftliche Umwälzungen, technische Erfindungen, auch Naturkatastrophen – wir kennen sie oft nur aus Büchern oder den Medien. Geschichte – das klingt nach Vergangenheit. Wir lernen darüber in der Schule, manchmal kennen wir noch persönlich Betroffene, die über ihr Erlebtes berichten. Die Betroffenen, Täter wie Opfer, des letzten Weltkriegs gehen nun allmählich von uns. Damit verlieren wir einen wichtigen Bestandteil der Geschichtsschreibung, nämlich den persönlichen Bezug zu diesem katastrophalen Ereignis, den wir teilweise noch durch unsere Eltern und Großeltern hatten.

Heute erleben wir Geschichte direkt, manchmal kann man im Augenblick des Geschehens noch nicht beurteilen, ob es sich wirklich um Geschichte, das heißt einen historisch bedeutenden Vorgang, handelt. Oft wird dies erst einige Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später richtig klar. Mit einem gewissen zeitlichen Abstand lassen sich die Ereignisse meist besser gewichten und beurteilen als in der unmittelbaren Gegenwart. Heute spüren die meisten am eigenen Leib, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, dass es sich hier tatsächlich um einen historischen Vorgang handelt.

Ich wurde zu einer Zeit sozialisiert und politisch interessiert als sich ebenfalls historische Geschehnisse ereigneten, ohne dass ich deren Ausmaß zur damaligen Zeit richtig einordnen konnte.

Eine der für mich prägendsten Figuren der deutschen Geschichte war Willy Brandt. Vor allem zwei Ereignisse sind mir nachhaltig in Erinnerung und mit ihm verbunden. Nach dem Wahnsinn des Nazi-Regimes und des II. Weltkrieges, war er der erste deutsche Kanzler der sich tatsächlich traute „mehr Demokratie“ zu wagen und der die Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten, die wohl am meisten unter dem Schrecken des Nazi-Regimes gelitten hatten, suchte.

Unvergessen sein Kniefall am Denkmal der Opfer des Warschauer Ghettos am 7. Dezember 1970. Brandt, der die Kriegszeit im Exil verbracht hatte, dadurch aber auch gänzlich unbelastet von allen Gräueltaten jener Zeit war, wagte es – als Unschuldiger – Verantwortung zu übernehmen, die Schuld seines Volkes zu thematisieren und die Opfer um Verzeihung zu bitten. Etwas, das seine Vorgänger und viele Deutsche, die Schuld auf sich geladen hatten, nach der Befreiung vom verbrecherischen Nazi-Regime nie geschafft hatten.

Das zweite Ereignis war der Besuch Brandts in der DDR, in Erfurt im März des gleichen Jahres, wo er von der dortigen Bevölkerung begeistert empfangen wurde und die Entspannung in der Ostpolitik, die Jahrzehnte später zur Wiedervereinigung führen sollte, eingeleitet hatte.

Warum ich das im Zusammenhang mit der aktuellen Geschichte erzähle? Weil es zeigt, wie Geschichte passiert, wie sie oft von einzelnen Personen oder Ereignissen geprägt wird und dass sich sowohl aus unserem Handeln, als auch aus unserem Zögern unvorhersehbare Auswirkungen auf die Zukunft ergeben können. Daher ist es so wichtig, die Lage jeweils richtig einzuordnen und die richtigen Maßnahmen zu treffen. Dass dabei auch Fehler passieren, dass diese korrigiert werden müssen, das man während des ganzen Prozesses ständig lernen und sich korrigieren muss, wie ein Seemann der durch unbekanntes Gewässer navigiert, liegt in der Natur der Sache.

In der heutigen schnelllebigen, globalen und vernetzten Welt, die über die neuen digitalen Medien ständig über alle wichtigen, leider auch viel zu ausführlich über die unwichtigen Vorgänge in jeder Ecke der Welt berichtet, ist das eine sehr große Herausforderung.